Das Leadership-Dilemma: Die Grenzen der unausgesprochenen Erwartungen

In den letzten Monaten hatte ich viele Gespräche mit anderen Unternehmerinnen und Unternehmern über ein Thema, das mich schon lange beschäftigt: Wie viel sollte ich als Führungskraft wirklich aussprechen, und was kann ich als selbstverständlich voraussetzen? Es gibt Erwartungen, die für mich so grundlegend sind, dass ich sie nicht explizit formulieren möchte. Gleichzeitig stehe ich oft vor der Frage, ob es nicht genau das ist, was in meiner Rolle erwartet wird – klar und präzise zu kommunizieren, selbst bei Dingen, die ich als völlig logisch empfinde.

Während einige meiner Gesprächspartner längst aufgehört haben, sich darüber den Kopf zu zerbrechen und jetzt jede noch so kleine Erwartung klar formulieren, halte ich an meiner Überzeugung fest: Manche Werte und Prinzipien sollte man einfach leben und nicht in jedem Detail aussprechen müssen. Doch auch ich habe bereits Situationen erlebt, in denen ich am Ende enttäuscht war, weil das, was ich als „selbstverständlich“ betrachtet habe, für andere keineswegs so klar war.

Das Missverständnis zwischen Selbstverständlichem und Unausgesprochenem

Eine typische Situation, die unsere Unternehmenskultur widerspiegelt, erlebe ich oft in Bewerbungsgesprächen. Wenn ich über das Miteinander bei uns im Team spreche, sage ich immer: „Wir unterstützen uns gegenseitig, ohne darauf zu warten, dass jemand um Hilfe ruft. Wenn ich sehe, dass jemand überlastet ist, dann frage ich nicht: ‘Brauchst du Hilfe?’ – ich mache einfach!“ Es geht darum, Aufgaben zu übernehmen, Termine zu verschieben oder spontan einzuspringen, um eine Kollegin oder einen Kollegen zu entlasten. Das ist eine unausgesprochene Erwartung, die für mich selbstverständlich ist.

Doch nicht alle sehen das so. Ein Satz, den ich in diesen Diskussionen oft gehört habe, lautet: „Du kannst nicht erwarten, dass andere genauso denken wie du.“ Und damit kommt die Frage: Ist es wirklich fair, von anderen das Gleiche zu verlangen, wenn ich es nie explizit ausgesprochen habe?

Warum unausgesprochene Erwartungen oft gefährlich sind

Ich stehe hier oft im Zwiespalt. Das Problem mit unausgesprochenen Erwartungen ist, dass sie zu Missverständnissen und Enttäuschungen führen können. Man geht als Führungskraft davon aus, dass der oder die andere schon versteht, was gemeint ist. Doch wenn die Erwartung gar nicht klar angekommen ist, führt das schnell zu Irritation und Frustration – auf beiden Seiten. Ich habe erlebt, wie sich Mitarbeitende zurückziehen oder sogar demotiviert werden, weil sie gar nicht wussten, was von ihnen erwartet wird. Plötzlich steht man da und fragt sich: „Wie konnte das passieren?“

Ist wirklich alles selbstverständlich?

Es gibt diesen Spruch: „Erwarte nichts, dann wirst du auch nicht enttäuscht.“ Er wird oft zitiert und stammt ursprünglich von einem Zen-Buddhisten namens Tsoknyi Rinpoche. Aber in der Realität funktioniert das im Arbeitskontext nicht immer, vor allem nicht im Führungskontext. Ich gehe davon aus, dass gewisse Grundwerte und Haltungen auch ohne explizite Anweisung existieren sollten. Wenn ich das Gefühl habe, dass Initiative oder Unterstützung von meinem Team nicht kommen, dann ist die Frage: Ist es wirklich so selbstverständlich, oder habe ich es verpasst, das als Teil der Unternehmenskultur klar zu definieren?

Stephen M. R. Covey: Klarheit als Grundlage für Vertrauen

Ein bekannter Vertreter des „klaren Erwartungsmanagements“ ist Stephen M. R. Covey, der argumentiert, dass Vertrauen erst durch vollständige Transparenz entsteht. In seinem Ansatz geht es darum, Erwartungen konsequent auszusprechen und Missverständnisse durch klare Worte zu vermeiden. Für Covey ist es die Verantwortung der Führungskraft, explizit zu formulieren, was sie möchte, um das Risiko von Fehlinterpretationen und Enttäuschungen zu minimieren. Diese Perspektive widerspricht meinem Ansatz, grundlegende Werte und Prinzipien als „Teil der Kultur“ anzusehen und nicht als Checkliste.

Prof. Dr. Wolfgang Jenewein: „Das Selbstverständliche sichtbar machen“

Ähnlich sieht das auch Prof. Dr. Wolfgang Jenewein von der Universität St. Gallen, dessen Arbeit zur kulturellen Transformation von Unternehmen ich mir in letzter Zeit näher angeschaut habe. Jenewein betont, dass unausgesprochene Erwartungen eine Kultur gefährden können und spricht davon, dass Führungskräfte das „Selbstverständliche sichtbar machen und konsequent leben müssen, anstatt es stillschweigend vorauszusetzen“. Für ihn ist es ein zentrales Element von Leadership, dass Führungskräfte regelmäßig reflektieren, ob ihre Erwartungen überhaupt verstanden und verinnerlicht werden.

Sein Ansatz beruht auf dem Konzept der transformationalen Führung, bei dem Führungskräfte nicht nur Anweisungen geben, sondern Werte vorleben und sicherstellen, dass diese in der Kultur des Unternehmens fest verankert sind. Laut Jenewein bedeutet das, als Führungskraft nicht nur zu sprechen, sondern auch aktiv zu handeln und durch das eigene Verhalten zu zeigen, was man erwartet​(HSG – Uni SG).

Der MBA-Ansatz: Klare Kommunikation ist das A und O

In der Businesswelt, besonders in vielen MBA-Programmen, wird oft betont, dass klare Kommunikation und präzises Erwartungsmanagement Grundpfeiler erfolgreicher Führung sind. Dabei geht es nicht nur um die große Vision, sondern auch um die kleinen, alltäglichen Erwartungen. Dort lernen angehende Führungskräfte, dass Präzision in der Kommunikation dazu beiträgt, dass weniger Raum für Fehlinterpretationen bleibt und Vertrauen entsteht. Der Grundgedanke: Je komplexer die Situation, desto klarer müssen die Erwartungen sein.

Das klingt in der Theorie logisch. Aber bedeutet das auch, dass ich jede Erwartung, selbst die grundlegendste, aussprechen muss? Was ist mit den „soften“ Erwartungen, die das Zwischenmenschliche und die Kultur ausmachen? Für mich ist es wichtig, dass Werte gelebt werden und nicht in Checklisten enden.

Kim Scott: Radikale Ehrlichkeit auch bei Grundsätzlichem

Ein Gegenpol zu meinem Ansatz ist Kim Scott, die das Konzept der „radikalen Ehrlichkeit“ propagiert. Scott plädiert dafür, selbst Grundlegendes zu kommunizieren, um Missverständnisse zu vermeiden und eine Vertrauenskultur aufzubauen. Ihr Ansatz geht davon aus, dass es nicht reicht, auf die Kultur zu setzen und zu hoffen, dass jeder dieselbe Vorstellung davon hat. Vielmehr muss jede Erwartung, egal wie „selbstverständlich“ sie für die Führungskraft sein mag, klar formuliert und kommuniziert werden. Das würde bedeuten, dass ich meine stillen Erwartungen an Eigeninitiative und Mitdenken genauso ausspreche wie konkrete Projektziele.

Liz Wiseman: Klarheit ohne Mikromanagement

Auf der anderen Seite gibt es Liz Wiseman, die zeigt, dass Führungskräfte aufpassen müssen, durch zu viel Klarheit nicht in Mikromanagement zu verfallen. Sie betont die Bedeutung von Klarheit und Vertrauen, warnt aber davor, durch detaillierte Regelungen und Erwartungen die Eigenverantwortung im Team zu ersticken. Wisemans Ansatz liegt irgendwo dazwischen und beschreibt den Balanceakt, in dem ich mich oft wiederfinde: Wie kommuniziere ich Erwartungen, ohne in ständige Detailvorgaben zu verfallen?

Wie geht es weiter?

Die Wahrheit ist: Ich habe (noch) keine endgültige Antwort. Es gibt für mich nach wie vor Erwartungen, die ich einfach nicht aussprechen möchte – weil ich will, dass sie als Teil unserer Kultur verstanden werden. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass ich damit manchmal auf Missverständnisse und Enttäuschungen zusteuere. Sollte ich also meine Sichtweise ändern und klare Worte auch für das Offensichtliche finden? Oder verliere ich dann den Raum für Vertrauen und Eigenverantwortung?

Am Ende bleibt das Leadership-Dilemma bestehen: Wie finde ich die Balance zwischen unausgesprochenen Erwartungen und klarer Kommunikation? Und das ist eine Frage, die mich wohl noch eine Weile begleiten wird.


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